Wie Ruth nach fast sechs Jahren Wohnungslosigkeit wieder ihren eigenen Wohnungsschlüssel in Händen hielt und was das mit dem Konzept von „Housing First“ zu tun hat.
Eine eigene Wohnung, die eigenen vier Wände, eine Tür, die man hinter sich zusperren kann – für viele selbstverständlich, aber das ist es ganz und gar nicht. In Zeiten von steigenden Mieten, immer höheren Fixkosten und prekären Jobverhältnissen ist der Erhalt der eigenen vier Wände oft schwer genug. Kommen dann Scheidung, Jobverlust oder Krankheit hinzu, kann es schnell gehen und man steht plötzlich ohne Dach über dem Kopf da. Was dann? Wohin nun? Wenn es nach dem Konzept von „Housing First“ geht, am besten so rasch wie möglich wieder in eine eigene Wohnung – mit eigenem Mietvertrag und, wenn gewünscht, sozialarbeiterischer Unterstützung und Beratung. So lautet das Erfolgsrezept von Housing First. Vor 30 Jahren in New York konzipiert, bringt dieser Sozialarbeitsansatz in Europa immer noch frischen Wind in die Wohnungslosenhilfe.
Auch die Zahlen geben dem Programm recht: 94 Prozent Mietstabilität ist eine Erfolgsquote, die sich sehen lassen kann. Housing First hat sich auch in anderen europäischen Ländern bereits etabliert und zeigt, dass es funktioniert. Denn nur eine eigene, leistbare Wohnung, die mietvertraglich abgesichert ist, beendet Wohnungslosigkeit nachhaltig.
Schnell und unverhofft
Es kann jeden und jede treffen, es kann ganz plötzlich gehen. Viele denken nicht, dass ihnen so etwas passieren könnte: Gerade noch in den eigenen, heimeligen vier Wänden und plötzlich auf der Straße ohne ein Dach über dem Kopf, oftmals unverschuldet. So wie bei Ruth, die vor sechs Jahren noch ein ganz normales Leben führte. Sie war in Pension, lebte mit ihrem Mann in einem schönen Haus. Eines Tages hatte ihr Lebensgefährte eine Gerichtsladung, sprach jedoch nicht weiter darüber. Plötzlich landete er im Gefängnis. Ruth fand sich ohne Partner wieder, mit einer mickrigen Pension und einem hohen Kredit für das Haus, den ihr Mann aufgenommen hatte und den sie nicht bezahlen konnte. Das Haus wurde zwangsversteigert. Ein Jahr lang übernachtete sie am Bahnhof einer Ortschaft in Niederösterreich im Wartehäuschen. Sie nahm sich ein kleines Lager-abteil und pendelte zu ihren Kindern und Enkelkindern. Gesagt hat sie nichts – zu groß war die Scham. „Ich habe natürlich versucht, eine Wohnung zu finden. Das war unmöglich. Aber für eine Monatskarte reichte das Geld. Ich habe meine Kinder oft in Wien besucht, war im Hallenbad duschen“, erinnert sich Ruth heute.
Endlich ein eigenes Zuhause
Nach einer Zeit im Übergangswohnheim, die bei Ruth eher unangenehme Erinnerungen weckt, kam vergangenes Jahr der erlösende Anruf, dass sie eine eigene Wohnung bekommen würde, und zwar mit Hilfe eines Housing-First-Teams. „Das war in der Weihnachtszeit. Ich erinnere mich noch, als ich die Wohnung angeschaut und mir gedacht habe: Die werde ich niemals kriegen. Da sind mir die Tränen gekommen, aber ich habe den Gedanken weggeschoben. Im Februar haben sie wieder angerufen – wegen des Mietvertrags. Ein eigener Mietvertrag. Ich hab es gar nicht glauben können.“
Ruth ist froh, auch in der schweren Zeit ihrer Obdachlosigkeit nicht aufgegeben zu haben. „Ich habe immer gewusst, dass mich meine Enkelkinder lieben und sie mich wahnsinnig vermisst hätten, wenn ich aufgegeben hätte. Deswegen habe ich gekämpft.“
Quelle: moment.at